22. Hamburger Afghanistan-Woche vom 14. – 18.8.2017
Das 22. Hamburger Afghanistan-Seminar fand wieder in dem idyllisch im Wald gelegenen CVJM-Tagungs- und Gästehaus „derSunderhof“ vor den Toren Hamburgs statt.
Diesmal standen die Veranstalter Amadeus Hempel vom Verein für politische Bildung (Hamburg) und Dr. Yahya Wardak von Afghanic e.V. (Bonn) vor einer kniffligen Herausforderung. Einerseits gab es deutlich mehr Anmeldungen als verfügbare Seminarplätze, andererseits gab es dann kurz vor Seminarstart etliche Absagen von bereits fest zugesagten Seminar-Teilnehmern und auch seitens einiger fest eingeplanter Referenten.
Trotz der Referenten-Absagen gab es aber auch diesmal wieder viele spannende, geplante und teilweise improvisierte Vorträge, so dass die etwa 60 Teilnehmer wieder einmal eine kurzweilige Seminarwoche erlebten.
Nach der offiziellen Begrüßung durch die Veranstalter und einer durch Amadeus Hempel moderierten kurzen Vorstellung der Teilnehmer erfolgte eine metaplan-orientierte Sammlung der Erwartungen der Teilnehmer an das Seminar, an die sich eine rege Diskussion über die aktuelle Situation in Afghanistan und der Afghanen in Deutschland anschloss. Zur Einstimmung auf die an den Folgetagen geplanten Vorträge, wurden zum Tagesausklang einige Filme zur afghanischen Geschichte gezeigt.
Die Vortragsreihe begann mit einer emotionalen, mit vielen Komplimenten bestückten, englisch-sprachigen Rede des in Frankreich lebenden, charmanten UNESCO & ISESCO-Botschafters a.D. Dr. Zahir Aziz. Sie befasste sich u.a. mit der trotz des langjährigen Engagements der ISAF-Staaten immer noch instabilen Sicherheitslage in Afghanistan, dem hohen Grad von Analphabetismus, der qualitativ schlechten medizinischen Versorgung sowie der immer noch existierenden Benachteiligung der Frauen und Mädchen in Afghanistan. Er widmete sich weiterhin einigen für die Zukunft Afghanistans essentiellen Fragestellungen. Wie kann der Zusammenhalt in Afghanistan und zwischen Afghanistan und seinen Nachbarstaaten hergestellt werden? Was wünschen sich die Afghanen für ihre Zukunft? Kann das gemeinsame kulturelle Erbe und eine kluge Kulturpolitik das Fundament für einen nationalen und nachbarschaftlichen Zusammenhalt bilden? Wie kann das kulturelle Erbe Afghanistans vor weiterer Zerstörung bewahrt werden?
Der angekündigte Referent Hamid Karzai, der letzte Präsident Afghanistans, war leider verhindert. Er sandte dem Seminar stattdessen ein schriftliche Grußbotschaft, in der er schrieb, dass er aufgrund der momentan kritischen Lage in Afghanistan nicht kommen kann, und es sehr bedauere, dass die Jugend Afghanistans ihr Land verlasse. Er fordere die Exil-Afghanen auf, die Regeln ihres Gastlandes zu befolgen, die Landessprache zu erlernen und die Möglichkeiten für eine Ausbildung zu nutzen.
Nächster Vortragender war der interkulturelle Einsatzberater Kapitänsleutnant Marco Hellgrewe, der von seinen spannenden Erfahrungen bei seinem ISAF-Einsatz in Afghanistan berichtete, insbesondere von seiner ganz alleine absolvierten 36.000 km langen Fahrt durch die im deutschen ISAF-Einflussbereich liegenden Provinzen, um dort im Auftrag der ISAF, strategische Abstimmungen mit den regionalen politischen und islamischen Führern durchzuführen.
Es folgte ein wissenschaftlicher Vortrag von Professor Michael Daxner, der über den aktuellen Stand seiner Forschungen berichtete und seine Einschätzungen bzgl. der aktuellen Afghanistan-Politik, der Situation in Afghanistan und der daraus resultierenden Flüchtlingsproblematik in Deutschland darstellte.
Der dritte Seminartag begann mit einem Vortrag von Amadeus Hempel über die Situation der afghanischen Familien in Deutschland. Zusammen mit der Co-Moderatorin Dr. Petra Beckmann-Schulz und der Erzieherin Nadima Brannath wurden danach 5 unterschiedlich zusammengesetzte Arbeitsgruppen zusammengestellt, die sich mit der Frage beschäftigen sollten, was in ihren afghanischen bzw. deutschen Familien eher gut bzw. eher schlecht läuft. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen wurden danach präsentiert und diskutiert.
Es folgte ein Vortrag von Professor Dr. Wolfgang Finke, der das afghanische Ministry of Higher Education (MoHE) bei der Erneuerung der öffentlichen afghanischen Hochschulausbildung unterstütze. Er berichtete von explodierenden Studentenzahlen, von der Konkurrenz öffentlicher und privater Hochschulen, unausgereiften Zulassungsmechanismen, unklarer Orientierung bzgl. des Arbeitsmarkt-Bedarfs, unzureichenden finanziellen, personellen, technischen, administrativen und Gebäude-Ressourcen, Sicherheitsproblemen im Campus-Leben, Korruption und über 90% gescheiterten Projekten mit Verlusten in Milliardenhöhe. Er plädierte für ein Afghan Higher Education Council zur Durchsetzung von einheitlichen Standards sowie die Einrichtung öffentlich zugänglicher eLearning Seminare zur Erlangung von Zertifikaten, die für das zukünftige Studium oder eine Tätigkeit in der privaten Wirtschaft verwendet werden können.
Zum Abschluss des 3. Seminartages gab es einen leidenschaftlichen Vortrag des Philatelisten Oberst a. D. Franz-Joseph Pütz, der unter dem Motto „Lehren und Lernen am Hindukusch – Deutsche in Afghanistan“ eine Vielzahl dazu passenden Briefmarken und Briefe präsentierte und dabei eine Menge spannender biographischer und geschichtlicher Hintergründe erzählen konnte.
Wie jedes Jahr gab es am 4. Seminartag auch dieses mal wieder aktuelle Informationen zu eigenen Projekten der Seminar-Veranstalter und -Teilnehmerinnen.
Der selbständige Unternehmensberater Michael Dewender berichtete über sein Projekt Kinderluftbrücke Kabul – Deutschland, mit vielen bewegenden Beispielen, die vielen der Anwesenden beim Anblick des Leids der Kinder Tränen des Mitleids in die Augen trieb, aber auch Tränen der Rührung, wenn die Operationen gut ausgegangen sind und die Kinder wieder gesund an die Eltern übergeben werden konnten.
Der Ingenieur, Architekt und Stadtplaner Dipl.-Ing. Abdul Latif Sarwar berichtete von seinem Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekt in Afghanistan in den Jahren 2002 bis 2012 mit vielen eindrucksvollen Bildern, die alle Stadien des Vorhabens gut nachvollziehbar dokumentierten, d.h. von der Planung, Grundsteinlegung, der Fertigstellung und der Übergabe an die örtlichen Kommunen, die sich dann „zum Dank“ mit einer eigenen separaten Tafel, als die eigentlichen Projekt-Verantwortlichen verewigten.
Cornelia Lehmann von der Reinbeker Unternehmensberatung advisa berichtete von Ihren aktuellen Aktivitäten in Afghanistan mit sehr optimistischen Einschätzungen, was die Entwicklung Afghanistans betraf. So gibt es mittlerweile in Afghanistan etliche europäisch geprägte Wohnprojekte und eine Vielzahl moderner Unternehmen, die teilweise auch durch afghanische Frauen geführt werden. Es können seit einiger Zeit etliche ISO-zertifizierte Produkte hergestellt werden, die den Export von afghanischen Produkten, wie z.B. Trockenfrüchten, Teppichen oder Marmor, in das Ausland ermöglichen.
Dr. Jürgen Kanne stellte zusammen mit dem am ehemaligen Paktia-Aufforstungsprojekt aktiv beteiligten Dipl.-Ing. Christian Wolter den aktuellen Stand ihrer Projektidee „Paktia-neu“ vor, das einen erneuten Versuch einer Wiederaufforstung in Paktia zum Ziel hat. Momentan werden noch die teils privaten Besitzverhältnisse geprüft, da diese für eine öffentliche Förderung des Projektes hinderlich wären.
Ruth Göhlen von der Organisation Engagement Global (Förderung Auslandsprojekte – Bengo) berichtete über die Rahmenbedingungen und Förderungsmöglichkeiten durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Ein förderungswürdiges Projekt muss eine Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung im Entwicklungsland zum Ziel haben, die auch über das Projekt hinaus wirksam ist. Die Kosten müssen zu 25% eigenfinanziert sein, wobei 15% dritt-finanziert sein dürfen. Jedes Projekt wird über einen Zeitraum von 4 Jahren bewertet. Für Afghanistan sind etwa 10 Mio. € pro Jahr vorgesehen. Es engagieren sich momentan ca. 25 private Träger aus Deutschland in Afghanistan.
Der afghanische Physikstudent Mohammad Tanha von der Universität Kabul und Hannover stellte den in Deutschland entwickelten Uni-Assistent vor, der es insbesondere nicht-deutschen Studenten leichter macht, die erforderlichen Formulare und offiziellen Anerkennungen bzw. amtlichen Stempel für ihre Hochschulzulassung in Deutschland zu erhalten. Sein anschließender Vortrag über die gängigen Stereotypen bzgl. Deutschen und Afghanen sowie den Hürden bzgl. der deutschen Sprache war eine willkommener, heiterer Kontrast zu den ansonsten eher ernsthaften Themen.
Der Schriftsteller und Ingenieur Ghulam Faruq Mirahmadi las aus seinem deutschsprachigen Erstlings-Roman „Schabo und Suhrab“ vor, wofür er von den Zuhörern einen verdienten Applaus bekam.
Wie immer waren auch die Kinder der Teilnehmer willkommen, die diesmal durch den Erzieher Jonas Brannath zur Zufriedenheit der Eltern und Kinder betreut wurden und es den Eltern dadurch ermöglicht wurde, ungestört am Seminar teilzunehmen.
Für den „Bunten Abend“ haben sich alle großen und kleinen Afghanen sowie einige der langjährigen deutschen Seminarteilnehmer wieder traditionell und farbenprächtig gekleidet. Die Kinder hatten für diesen Abend leckere Plätzchen gebacken und in den Nationalfarben Afghanistans und Deutschlands bemalt. Die Kinder trugen unter Anleitung von Nadima Brannath eine gelungene Interpretation der afghanischen Nationalhymne vor, wofür sie zu Recht viel Beifall bekamen. Danach gab es ein gemeinsames Essen mit gegrilltem Fleisch, Würstchen, Grillsoßen, bunten Salaten, Brot, vielen lebhaften Gesprächen und natürlich auch dem obligatorischen afghanischen Attan-Tanz.
Am letzten Tag las Amadeus Hempel zum Vergnügen der Teilnehmer mit geschulter Stimme einige Passagen aus dem Buch „Paschtunische Kurzgeschichten“ des Schriftstellers Zarin Anzor vor, dass die ehemalige Gymnasiallehrerin und jetzige Übersetzerin Ingrid von Heiseler vom Englischen ins Deutsche übersetzt hat.
Der in Afghanistan lebende Ingenieur Younus Fakoor berichtete über die aktuelle Situation in Afghanistan. Es gäbe zurzeit zwar wieder verstärkte Anschläge der Taliban, aber nach seiner Einschätzung ist die afghanische Bevölkerung mittlerweile kriegsmüde. Kabul ist wieder eine pulsierende Stadt. Es entstehen immer mehr moderne Gebäude. Es werden öffentliche Feste gefeiert. Es gibt westlich orientierte Sender und Musikveranstaltungen. Aber es gibt auch Zeltstädte für Flüchtlinge mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Die afghanische Bevölkerung würde ein stärkeres Engagement der Deutschen ISAF-Soldaten und NGO begrüßen, da die Deutschen immer noch ein hohes Ansehen bei der afghanischen Bevölkerung genießen. Er selbst würde es auch begrüßen, wenn es in Afghanistan eine Mehr-Parteien-Landschaft wie in Deutschland gäbe, die ein vielfältiges politisches Zusammenleben möglich machen könnte.
Der unbegleitete afghanische Jugendliche Shafi Wardak berichtete über seine wochenlange Flucht aus Afghanistan, die über die Staaten Pakistan, Türkei, Bulgarien, Ungarn bis nach Deutschland erfolgte, wo er mittlerweile eine kleine Wohnung, einen Studienplatz und eine zeitweise Duldung erhalten hat.
Zum Schluss gab es noch einmal ein kleines Feedback der Teilnehmer zum Seminar, und wer wollte, hatte auch noch die Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge und Anregungen für das nächste Hamburger Afghanistan-Seminar zu machen, was den Teilnehmern, zumindest was die Verbesserungsvorschläge betraf, eher schwer gefallen ist.